Gelegentlich erlebe ich etwas, das auf dieser Website eigentlich gar nichts zu suchen hat – Geschichten, in denen ich keine Kamera dabei hatte. Ich sollte mich an das halten, wofür ich diese Website gebaut habe: Fototouren oder zumindest etwas, das im Entferntesten mit Fotos zu tun hat. Aber seit wann halte ich mich an Regeln?! Deswegen werde ich in dieser neuen Kategorie (Unterwegs ohne Kamera) ab und zu mal eine Geschichte erzählen, die mir auch ohne Fotos im Gedächtnis geblieben ist. Viel Spaß dabei! ☺️
Es war schon Herbst, als ich gerade erst ein paar Monate den Führerschein hatte und mein erstes Auto – einen dunkelblauen Ford Mondeo MK1 von 1996 – mein Eigen nennen konnte. Um gut durch den Winter zu kommen, brauchte ich allerdings auch noch einen Satz Winterreifen. Meine Finanzen waren zu dieser Zeit recht überschaubar, und so entschied ich mich, die Reifen gebraucht zu kaufen. Schnell fand ich ein passendes Angebot und fuhr von Klein Blumenhagen nach Braunschweig, um sie mir abzuholen.
Das wenige Licht, das sich an diesem späten Nachmittag durch die dicke Wolkendecke kämpfte, legte sich diffus über die Landschaft, während mir mein altes Navi mit roboterhafter Stimme den Weg wies. Staus und Sperrungen konnte es mir zwar nicht anzeigen, aber es führte mich trotzdem zuverlässig zu meinem Ziel.
Der Verkäufer war ein älterer Herr, der in einem mehrstöckigen Mehrfamilienhaus wohnte, das mich an ein verlassenes Krankenhaus erinnerte. Das Treppenhaus war in einem dunklen Grün und Beige gestrichen und teilweise mit Graffitis beschmiert. Als ich die Tür des in die Jahre gekommenen Fahrstuhls von Hand schloss, um zu seiner Wohnung zu gelangen, sah ich noch die Neonröhren im Treppenhaus flackern. Klappernd setzte sich der alte Aufzug in Bewegung. Einen besonders vertrauenserweckenden Eindruck machte er nicht auf mich, sodass ich froh war, dass ich in der richtigen Etage ankam, ohne stecken geblieben zu sein.
Der Verkäufer begrüßte mich freundlich und erzählte mir auf dem Weg zum Abstellraum – der sich auf derselben Etage befand wie seine Wohnung –, dass er seinen Mondeo aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fahren konnte und daher verkauft hatte. Er erinnerte sich liebevoll an Fahrten mit dem Wagen und seiner inzwischen verstorbenen Frau als Beifahrerin. Und während man das Klacken seines Krückstocks bei jedem Schritt durch den langen, spärlich beleuchteten Fluren hallen hörte, versicherte er mir, dass ich mit diesen Reifen sicher durch den Winter kommen würde.
Nachdem ich mir die Reifen ansah und feststellte, dass sie genau wie beschrieben aussahen, bat mich der Herr in seine Wohnung, um zu bezahlen. Darin stand ein Krankenbett und es stapelten sich unzählige Medikamente auf allen möglichen Ablageflächen. Er erzählte mir inzwischen, unter welchen Krankheiten er litt, während in mir die Fantasie immer deutlichere Formen annahm, dass ich mich gar nicht in einem Mehrfamilienhaus befand, sondern in einem verlassenen Krankenhaus, das von verstorbenen Seelen bewohnt wird – und einer von ihnen würde ich gerade einen Satz Winterreifen abkaufen.
Endlich konnte ich die Reifen zum Fahrstuhl schleppen und darin stapeln. Dann verabschiedete ich mich und nahm selbst die Treppe hinab, um sie schließlich in mein Auto einzuladen und mich auf den Heimweg zu machen.
Verwundert bemerkte ich, dass das Navi eine andere Route für die Rückfahrt berechnete als für die Anfahrt. Jetzt schickte es mich kreuz und quer durch die Stadt. Es war mittlerweile dunkel geworden und regnete in Strömen, sodass sich die Lichter der anderen Autos, der Straßenlaternen und Ampeln in den Wasserpfützen spiegelten, die von den wenigen Autos, die noch unterwegs waren, aufgewirbelt wurden.
So leer hatte ich Braunschweig noch nie gesehen. Aus dem Radio dudelte Musik, doch die immer größer werdenden Regentropfen schlugen so laut auf die Windschutzscheibe auf, dass ich kaum etwas verstehen konnte. Die Scheibenwischer huschten so schnell wie möglich über die Scheibe. Doch gegen dieser weißen Wand aus Regen, die nur wenige Meter Sicht zuließ, konnten sie nichts ausrichten. Schließlich konnte ich nicht mal mehr die Markierungen auf der Straße erkennen. An Kreuzungen vertraute ich darauf, dass der Braunschweiger Wagen vor mir schon wisse, wo die richtige Spur ist, und folgte ihm einfach beim Abbiegen an mehrspurigen Kreuzungen. Andere Fahrer hatten zu dieser Zeit schon längst aufgegeben und warteten am Fahrbahnrand auf bessere Sicht.
Der Wagen, der mich unwissentlich durch Braunschweig führte, blieb nun in der Stadt zurück, während ich langsam ländliche Gebiete erreichte. So fuhr ich durch die Nacht und wusste eigentlich gar nicht mehr so richtig, wo genau ich mich befand, als plötzlich ein rot-weißes Schild vor mir auftauchte – Vollsperrung.
Ich kämpfte eine Zeit lang mit dem alten Navi, das sich allerdings standhaft weigerte, mir eine alternative Route auszuspucken, und eine Umleitung wurde auch nicht durch ein Schild angezeigt. Ich war also auf mich allein gestellt, die Sperrung zu umfahren. Nach einem ersten missglückten Versuch fand ich schließlich einen Feldweg, der in die richtige Richtung zu führen schien. Mit etwas Glück würde ich kurz hinter der Sperrung herauskommen, und so nahm ich ihn, obwohl es laut einem aufgestellten Schild nicht erlaubt war.
Anfangs bestand der schmale Weg noch aus Asphalt, wandelte sich dann aber zu einem Schotterweg. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, dafür stieg jetzt aber Nebel vom feuchten Boden auf, während ich immer tiefer in die Feldmark fuhr. Der Weg wurde sandiger – schlammiger –, sodass ich schon befürchtete, stecken zu bleiben, aber der Wagen wühlte sich immer weiter voran, bis der Weg schließlich mitten auf einem gerodeten Acker endete.
Die Schwärze der Nacht vermischte sich am Horizont mit dem dunklen Himmel, und es war so still geworden, dass man nur das leise Brummen des Motors hören konnte. Ich dachte daran, dass ich fast den ganzen Weg im Rückwärtsgang zurückfahren musste, da er viel zu schmal zum Wenden war, und beobachtete, wie die Nebelschwaden langsam im Licht der Scheinwerfer über den Acker krochen, als mir das Navi, das immer noch lief, plötzlich riet:
„Wenn möglich, bitte wenden.“
„Ok“, dachte ich lachend, während ich den Rückwärtsgang einlegte. „Und weiter geht’s.“
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