Als er weiter las, erfuhr er, dass der Geist der Hexe an jedem Halloween auf der Rabenklippe erscheint, um ihr Unwesen zu treiben. Die Geschichte der Hexe hatte er schon als kleines Kind gehört. Jedes Kind kannte diese Geschichte von der bösen, alten Hexe. Die Erwachsenen erzählten, dass ein Kind, das einmal zu tief in den Wald gelaufen war, nie wieder nach Hause zurückkehrte. Paul hielt diese Erzählung aber stets für eine kleine Gruselgeschichte, die man Kindern erzählte, damit sie nicht zu weit in den Wald liefen. Angezogen von der dunklen Schönheit des Mystischen, fasste Paul den Plan, in dieser Nacht zur Rabenklippe zu wandern und den Geist der Hexe zu suchen.


Nur wenige Tage später begann Paul seine Wanderung am späten Abend. Über dem schmalen Waldweg kroch dichter Nebel, der sich aus dem Wald heraus auszubreiten schien. Paul lauschte den Rufen der Eulen und dem dunklen Röhren der Hirsche, während die Blätter raschelten und ihm der Geruch von feuchter Erde und welkem Laub in die Nase stieg. Umso näher er seinem Ziel kam, desto befremdlicher erschienen ihm die Geräusche des Waldes vor. Aus dem Röhren des Hirsches schien ein gequälter Schrei zu werden, und jedes Mal, wenn ein Ast knackte, fühlte es sich so an, als ob ihn jemand aus nächster Nähe beobachtete und nur darauf wartete, aus dem immer dichter werdenden Nebel hinter ihm zu erscheinen. Das hielt Paul aber nicht davon ab, weiter zu gehen. Nun war es nicht mehr weit. Während er mutig die letzten Schritte ging, sah er Schatten im Nebel tanzen, als ob es Geister der Vergangenheit wären.


Als Paul die Rabenklippe erreichte, war sie in helles Mondlicht getaucht. Er hielt einen Moment inne, um sich in Ruhe umzusehen, als plötzlich ein grünes Licht an der oberen Kante der Klippe aufblitzte. Erschrocken, aber immer noch getrieben von der Neugier, suchte er sich einen Weg hinauf, um zu sehen, wer oder was dort oben sein Unwesen trieb. Vorsichtig und so leise wie möglich schob er seinen Kopf über die Kante. Gerade so weit, dass er über die Kante sehen konnte. Er fand sich in einer surrealen Szene wieder. Durch den Nebel leuchtete ein grüner Lichtschein, während unheimlich anmutende Gestalten um eine schwarz gekleidete Gestalt schwirrten, die in der Mitte des Geschehens stand. Ihr Gesicht war mit einer Kapuze verdeckt, sodass man es trotz des hellen Mondlichts und der immer wieder aufflackernden Blitze nicht erkennen konnte. Plötzlich drehte sie sich zu Paul um. Nun konnte Paul auch die leuchtenden Augen sehen, die so aussahen, als ob sich die ganze geheimnisvolle Magie der Hexe in ihnen verbarg. „Du bist also gekommen, um mich zu sehen.“, sagte die Hexe mit einer durchdringenden Stimme. Paul nickte schüchtern. Er war überwältigt von der Szene und der Präsenz der Hexe. Dann aber fasste er den Mut, einen Schritt näherzutreten. „Ich wollte wissen, ob die Geschichten wahr sind. Ob du wirklich existierst.“ Die Hexe lachte leise und der Klang erinnerte ihn an zerbrechendes Glas. „Die Geschichten sind immer wahr und immer ein wenig falsch. Aber heute Abend, an Halloween, wirst du die Wahrheit kennenlernen.“, flüsterte sie. Mit diesen Worten streckte sie die Hand aus und ein helles Licht erschien in ihrer Handfläche. Als Paul seine Hand in ihrer legte, fand er sich in einer lange vergangenen Szenen wieder, die die Geschichte des verschwundenen Kindes erzählte. Da verstand Paul, dass es nicht die unheimliche Hexe dafür sorgte, dass das Kind verschwand, sondern die leichtsinnige Entscheidung eben jenes, den verlockenden Ruf des Abenteuers zu folgen und immer tiefer in den Wald zu laufen, anstatt zum Dorf, seiner sicheren Heimat, zurück zukehren. Die Angst und vor allem auch die Wut der Dorfbewohner, die durch das düstere Erscheinungsbild der Hexe befeuert wurden, waren schließlich die Gründe für ihre Verbannung aus dem Dorf und dafür, dass sie sich an der Rabenklippe niederließ und fortan dort lebte. 


Nachdem Paul alles gesehen hatte, was die Hexe ihm zeigen wollte, war es plötzlich still. Als er sich umsah, waren sowohl die Hexe als auch die blitzenden Lichter und Gestalten weg, die um sie herum tanzten. Er setzte sich an den Rand der Klippe und sortierte seine Gedanken zu dem, was er in dieser Nacht erlebt hatte, bis die ersten Sonnenstrahlen den Nebel durchdrangen. Jeder Schimmer der aufkommenden Sonne schien die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben, und von diesem Halloween an wurde Paul zum Geschichtenerzähler. Er sprach von der Hexe mit dem glühenden Blick, deren Geschichte nicht nur ein Märchen war, sondern eine Mahnung: Manchmal sind es nicht die dunklen Gestalten, die die Gefahr bringen, sondern die Ängste, die wir in unserem Herzen tragen. Wer den Mut hat, die Wahrheit zu erkennen, kann die Schatten besiegen und die verborgenen Schönheiten der Welt entdecken.



Happy Halloween 🎃